Kultur Regional
Montag, 2. Oktober 2006
Wohl vertraute fremde Kultur

„Russische Nacht" in der Stadtbibliothek Ludwigshafen mit Lesungen, Musik, Filmen, Bildern und Kulinarischem

 

genommen hat. Mehrere Filme wur­den in der Rotunde vorgeführt; düste­re bizarre Frühwerke, Weltanschauli­ches, Ballett-Filme und zu vorgerück­ter Stunde nicht jugendfreie „Gehei­me russische Märchen".
Als der Star des Abends auftrat, ver­waisten Buffet und Wandelgänge: die Pop-Sängerin Julia Neigel vor einem Debüt als Autorin. Nur für ihre Fans habe sie bisher die Geschichten aus ih­rem Leben ins Internet gestellt, die sie als Anekdoten bezeichnet. Zum aller­ersten Mal saß sie nun vor einem Bü­cher-Publikum und las vor. Julia Nei­gel ist von russlanddeutschen Eltern in Sibirien geboren. In der Erzählung über den Geburtstag ihrer Mama, der eine weit verzweigte Großfarnilie zu üppigem Essen, ausgelassenem Tanz und die Zunge lösendem Wodka ver­eint, setzt sie sich mit dem harten Schicksal ihrer Vorfahren auseinan­der, von dem sie, wie sie reumütig be­kennt, in ihrer Kindheit und Jugend nichts wissen wollte. Auch eine weite­re Geschichte über irrationale weibli­che Angst vor Spinnen - aber ja nicht töten! - bestätigte: Sie schreibt gut und sie liest auch gut.
dere Reihe russischer Lyrik vorstieß. Russland erlebte eine immense kultu­relle Blüte, ehe der Stalinismus nach und nach alles platt machte.
An diese Blütezeit knüpften die Pe­restroika-Autoren an. Einer von ihnen war Alexander Borodynia, der seit ei­nem Jahrzehnt in Ludwigshafen lebt. Aus den Moskauer Untergrund-Zir­keln gelangte er als Autor und Filmre­gisseur an die Öffentlichkeit, und ein paar Jahre lang erzielten seine utopi­schen und weltanschaulichen Romane beachtliche Auflagen. Doch in Russ­land änderte sich alles schnell und ra­dikal. Aus einem Volk der Leser wur­de ein Volk der Medienkonsumenten; die Bücherproduktion sank auf ein Drittel. Hohe Auflagen haben darin an­dere, zum Beispiel Kriminalautorin­nen, von denen Eleonore Hefner vier vorstellte. Alexander Borodynia dage­gen beschloss, als Autor zu sterben. Sprachlos im wörtlichen Sinn, denn er kann kein Wort Deutsch, wandte er sich Computergrafik und Film zu. Zu­sammen mit seiner Frau Raissa Imeni­tova bildet er das A&R Studio, das eine rege Tätigkeit im Offenen Kanal be­treibt und auch schon an Festivals teil-

Von unserer Mitarbeiterin Heike Marx

Ein randvolles Haus brachte der Stadtbibliothek die „Russische Nacht". Über zwei Stunden lang gab es ein abwechslungsreiches und kom­primiertes Programm im 15-Minuten-Takt mit dem literarischen Debüt von Julia Neigel als Höhepunkt.

Geboten wurden Bücher, Kunst, Fil­me, Musik und Kulinarisches, alles echt russisch - und made in Ludwigs­hafen. Russische Kultur ist also mitten unter uns; und oft schon so integriert, dass wir sie nicht mehr als fremd wahrnehmen. Zum Beispiel die Og­gersheimer Galeristin Marina Kiehns. Für die eine Nacht hatte sie kleine Bil­der von Wassily Trusov und Tatjana Zinkova mitgebracht. Vorbei an Samo­war und Wodka-Ausschank defilierte man an ihnen entlang zum Buffet im Foyer des Kunstvereins und zur Film­vorführung in der Rotunde. Marina Kiehns stellte das halb bürgerliche, halb literarisch bewegte Leben und ei­nige heiße Liebesgedichte von Marina Zwetajewa vor, die ab 1910 in die vor-
Las Geschichten aus ihrem Leben: die Sängerin Julia Neigel.
—FOTO: KUNZ