Erofeev, Venedikt
DIE REISE NACH PETUSCHKI
MOSKVA—PETUSKI
(russ.; U: Die Reise nach Petuschki).
Roman von Venedikt Erofeev, erschienen 1973. – Schon bald nach seinem
Entstehen (1969) den populärsten, durch den Samizdat verbreiteten
Werken russischer Untergrundliteratur zugerechnet, 1973 in der israelischen
Zeitschrift ›Ami‹ vorabgedrückt, erschien der Roman in Buchform
zuerst in franzosischer Übersetzung. Er entwirft ein groteskes
Bild der sozial und seelisch verwahrlosten sowjetischen Welt, die gänzlich
im Alkoholismus versunken ist. Erzahlt wird aus der Perspektive eines
betrunkenen, mit dem Autor namensgleichen und biographisch weitgehend
Übereinstimmenden Helden. Mit seinem Weg zum Bahnhof beginnt am
frühen Morgen die Handlung und spannt sich sodann in den Rahmen
einer Zugfahrt zwischen den gegensätzlich semantisierten Titelorten.
Moskau stellt den realen, durch die Sowjetwirklichkeit verdüsterten
Erlebensraum dar, dessen topographischen und symbolischen Mittelpunkt
der Kreml bildet. Dem entgegen steht der Idealraum und das Reiseziel
Petuski, wo die Geliebte und der kleine Sohn Venedikts leben, »wo die
Vogel nicht aufhören zu singen . . ., wo sommers wie
winters der Jasmin nicht verblüht. Die Erbsunde. . .
tangiert dort niemanden. Sogar die, die wochenlang nicht nüchtern
werden, behalten dort ihren klaren, unergründlichen Blick«.
Die Reiseerlebnisse des Helden spiegeln
eine mit diesem Paradies stark kontrastierende Realwelt. Die das russische
Volk repräsentierenden Passagiere bilden eine stumpfsinnige, von
Trunksucht beherrschte Gemeinschaft ohne Hoffnung und Menschenwürde.
Ihre unterwegs erzahlten Geschichten ergänzen, zusammen mit Ruckblenden
in Venedikts Leben als Hilfsarbeiter, die karikierende Darstellung der
sowjetischen Gesellschaft: Hier gleicht die zwischenmenschliche Harmonie
dem kollektiven Alkoholismus und eine ausgeprägte Individualität
den eigentümlichen Trinkgewohnheiten.
Die in der Obhut von Engeln angetretene
Reise, die Venedikts Fluchtversuch aus diesem moralisch und kulturell
verödeten Alltag symbolisiert, wird mehr und mehr zur tragischen
Irrfahrt. Kurz vor dem Ziel bricht eine apokalyptische Finsternis herein,
alle Passagiere verschwinden, und unheilvolle Erscheinungen verhöhnen
und misshandeln den Helden – darunter ein zum Sprung aus der Eisenbahn
einladender Satan, eine verstümmelte Sphinx, die Petuski für
Menschen unzugänglich erklärt, sowie eine Horde Erinnyen,
die durch den plötzlich in Richtung Moskau donnernden Zug rasen.
Verwirrt und verzweifelt findet sich Venedikt mitten in der Hauptstadt
wieder. Vor dem Kreml, den er nie zuvor gesehen hatte, wird er von vier
Männern blutig zusammengeschlagen und schließlich in einem
Treppenhaus, in dem er Zuflucht sucht, umgebracht.
Die Unmöglichkeit, Petuski – den
einzigen Ort aller sonst untergegangenen Werte – zu erreichen, der barbarische
Mord am unschuldigen Helden und das Verhangniesprinzip, dem das Geschehen
insgesamt unterliegt, machen auf der Ebene der außeren Handlung
Erofeevs Verzweifeln an der sowjetischen Wirklichkeit sichtbar. Dennoch
tritt diese Ebene hinter der Schilderung inneren Vorgang zurück,
die sich in Venedikts Empfindungs- und Gedankenwelt abspielen. Das vom
Trinkrausch getrübte Bewußtsein des Perspektivtragers motiviert
namlich die erzahltechnischen und stilistischen Mittel, mit denen der
Autor in vorwiegend sarkastischer Manier seine bitter-luziden Erkenntnisse
über die Heimat ausdruckt. Wie ein Zerrspiegel reflektiert die
überreizte Wahrnehmung des Helden die Deformation von Mensch und
Gesellschaft; zudem verhöhnen seine Ansichten alle in der Sowjetunion
geltenden Werte. So erhebt er z. B. die Trunksucht – eines der
akutesten sozialen Probleme – zum würdigsten Gegenstand wissenschaftlicher
und philosophischer Betrachtung, preist sie als Kunst und als einzig
wahren Lebensinhalt an. Auch das groteske Vermengen des Realen mit dem
Irrealen lasst sich auf Wahnerlebnisse zurückfuhren, die zum Säuferwahnsinn
gehören, ferner begründet die alkoholbedingte Gefuhlsverwirrung
Venedikts hyperbolische Ausdrucksweise sowie seine extremen, plötzlich
umschwingenden Affektzustande.
Neben der Satire und der Groteske wendet
Erofeev als weiteres Stilmittel des Hohns die Parodie an. Die in Moskva-Petuski
reichlich anklingenden Erzeugnisse westeuropäischer und russischer
Literatur sowie der sog. sowjetischen »Antikultur« (Propagandareden,
Parteislogans u. a.) werden auf ihrem Weg durch Venedikts Bewußtseinsstrom
umgestaltet oder, wie auch Ereignisse aus der Weltgeschichte bzw. aus
berühmten Biographien, abwegig gedeutet. Andererseits huldigt der
Autor literarischen Vorbildern; auf das bedeutendste – Gogols Roman
„Mertvye duschi“ – verweist der (aus der zweiten Ausgabe von Moskva
– Petuski gestrichene) Untertitel Poem wie auch die Verwendung einer
Reise als Erzahlgerust. Dieses Kompositionsprinzip knüpft zugleich
an eine Tradition an, die mit Sternes Roman A Sentimental Journey through
France and Italy begründet und in Russland von Radiscev (Putesestvie
iz Peterburga v Moskvu) aufgegriffen wurde. Mit der zunehmend tragischen
Handlungsentwicklung vermindern sich literarische Nachklange, wahrend
mythologisch-religiose Reminiszenzen in den Vordergrund rucken. In den
letzten Romankapiteln stellen schließlich dicht auftretende neutestamentliche
Motive eine deutliche Analogie zwischen Venedikts Tod und dem Opfertod
Christi her.
O. Sz.